Schreibmaschine, Postkarte, Wort – geboren ist die Straßenpoesie

Ein Mensch, ein Wort und eine Postkarte – schon kann die Kunst der Straßenpoesie beginnen. In wenigen Augenblicken saugen Autoren zahlreiche Eindrücke eines Moments auf und verschriftlichen ihre Zusammenfassung in minimalistischen Geschichten. So klein die Anzahl der Worte, so groß deren Aussage: Fabian Neidhardt verrät uns das Geheimnis der spontanen Lyrik auf der Straße.

Schreibmaschine

Kleine Momente ganz groß: Straßenpoetiker suchen das Besonsdere in jedem Augenblick.

Ein Satz auf einer Postkarte – das ist Kunst? Oh ja!

„Der Aufprall ist ohrenbetäubend“, „die nackten Füße spüren jeden Kopfpflasterstein“: so zum Beispiel klingen Statements aus Straßenpoesie-Texten. Ihr fragt euch: Das soll Kunst sein? Und ob! Denn diese Texte sagen mehr, als auf den ersten Blick vermutet: Lyriker wie Fabian Neidhardt verewigen in ihnen alle Gedanken, die ihnen in einem einzigen Moment zu einem bestimmten Wort in den Sinn kommen – spontan, ohne Filter und frei von Beschränkungen.

Ein Moment zum Mitnehmen

Inspiration erhält der Straßenpoet von Passanten: „Ich sitze mit einer alten Schreibmaschine in den Straßen und habe Blankopostkarten dabei. Auf einem kleinen Schild steht: Du bestimmst das Thema und den Preis, ich schreibe den Text. Auf die Rückseite lasse ich die Passanten ihre Adresse und ein Thema oder ein paar Worte schreiben. Und dann tippe ich auf die Rückseite einen Text zu diesen Worten“.

Fabian hat die Straßenlyrik mit der Schreibmaschine nicht erfunden: Auch in anderen Teilen der Welt erfreut sich die Idee der spontanen Textkunst großer Beliebtheit.

Postkarte

Wo wenig Raum ist, haben nur wichtige Dinge Platz – nicht Verstand, sondern Spontanität geben hier den Ton an.

Wenig Zeit für wenig Zeilen

Vor ihrer Veröffentlichung durchlaufen klassische Romane sowie Gedichte zahlreiche Prüfstationen. Anders bei der Straßenlyrik: Da die Texte die spontanen Eindrücke eines Moments unverfälscht wiederspiegeln können, entstehen sie frei nach dem Motto „Raus aus dem Kopf, rauf aufs Papier“. Nach maximal 20 Minuten heißt es daher: Stifte weg!

Ist es reines Talent, so viel Kreativität auf engstem Raum unterzubringen, oder das Produkt langer Übung? „Ich habe den Text nicht im Kopf, aber ich habe eine grobe Idee, wie der Text funktionieren muss, damit das Ende der Postkarte auch das Ende des Textes ist. Mittlerweile habe ich ein Gespür dafür, wie ein Text sein muss, damit er auf eine Karte passt. Aber der Inhalt überrascht mich manchmal immer noch selbst“, erklärt Fabian.

Der Alltag eines Straßenpoeten

Den ganzen Tag im Park sitzen, Passanten nach ihren Lieblingswörtern fragen und die ersten spontanen Gedanken zu Papier bringen: Klingt nach einem entspannten Berufsleben. Doch so einfach ist es natürlich nicht:

Arbeitsplatz

An seinem Arbeitsplatz ist Fabian in seinem Element.

Eine Tätigkeit aus Leidenschaft

Straßenpoeten arbeiten aus Liebe zur Poesie, nicht zur Existenzsicherung. Fabian arbeitet deshalb freiberuflich als Sprecher sowie Romanautor und gibt Kurse auf seinen Spezialgebieten. Ein Acht-Stunden Bürojob wäre für ihn undenkbar: „Als Selbstständiger ist jeder Tag ein Arbeitstag und jeder Arbeitstag ein Tag des Lebens, den man genießen kann. Er besteht aus kleinen Häppchen, die mit ganz verschiedenen Dingen gefüllt sind.“

Auf seiner „Spielwiese“ Mokita – wie der Wortkünstler seinen Blog bezeichnet – lässt er seinen Gedanken freien Lauf und inspiriert mit seinen Texten zum Nachahmen.

Kleiner Text mit großer Wirkung – für Leser und Autor

Seine eigene Persönlichkeit kennenlernen: Das ist für Fabian ein entscheidender Beweggrund für seine Tätigkeit als Straßenpoet. „Oft sind auch Themen dabei, mit denen ich mich selbst wahrscheinlich nie auseinandergesetzt hätte. Diese Themen und mein Kopf, da kommen ziemlich spannende Texte raus“, erklärt Fabian.

Diese Kunst lebt von Spontanität – und das ist die Voraussetzung für Kreativität. Denn in der Kürze der Zeit, der Enge der Fläche und der Schnelllebigkeit des Moments haben nur die wichtigsten Gedanken ihre Daseinsberechtigung. Argumente wie Plausibilität oder Sinn müssen dabei weichen. Und anders als wir es aus unseren digitalen Medien gewöhnt sind: Einmal auf der Schreibmaschine getippt, sind die Worte immer festgehalten.

So schnell kann es gehen: Ein Blatt Papier, ein Wort, ein Gedanke und schon ist ein neuer Poet geboren. Probiert es doch einfach mal aus: Ihr werdet staunen, wie viele Eindrücke ein einziger Moment bei bewusster Wahrnehmung zu bieten hat.

Bilder: Bild 1: (c) iStok / zoff-photo, Bild 2: (c) iStock / darkbird77, Bild 3: (c) Fabian Neidhardt