„Es gibt Texte, die sich erst übers Hören vollends erschließen“ – Hörbuchproduzent und Autor Peter E. Reichel im Interview

Das Hörbuch ist für Peter Eckhart Reichel eine eigene Kunstform – denn es eröffnet neue Interpretationsebenen, die der gelesene Text womöglich nicht hergibt. Im Interview mit uns spricht der Autor und Hörbuchproduzent über seinen Durchbruch, erklärt, welche Schwierigkeiten bei der Produktion eines Hörbuchs entstehen und verrät, was die Kunstform Hörbuch ausmacht.

Hohe Auflösung Peter Eckhart Reichel

Über Peter Eckhart Reichel

Seit 1991 lebt der freie Autor und Hörbuchproduzent Peter E. Reichel in Berlin. 1996 gelang ihm schließlich der Durchbruch. Danach schrieb er vor allem Hörbücher und Features für das Radio und arbeitete als Hörbuchproduzent, bevor er sich endgültig und ganz „seinem“ Medium, dem Hörspiel verschrieb.

Im Juli 2007 gründete Peter Eckhart Reichel seinen eigenen Hörbuchverlag words & music in Berlin. Dort verkauft er nicht nur seine Hörbücher und eBooks, sondern bietet zudem viermal im Jahr Hörbuchsprecher-Workshops in seinen Berliner Aufnahmestudios an.

Wie war es für Sie als Autor, das erste Mal eines Ihrer Bücher vertont zu hören?

Es war für mich ein ziemlich ergreifendes und hoch emotionales Erlebnis. Daran kann ich mich noch heute sehr lebhaft erinnern. Ich hatte 1995 ein Hörspiel geschrieben und das Manuskript an alle damaligen Hörspielredaktionen des öffentlich-rechtlichen Rundfunks eingereicht. Monatelang erhielt ich immer wieder nur pauschalisierte Absageschreiben. Fast hatte ich die Hoffnung auf Erfolg schon aufgegeben, da erreichte mich plötzlich ein Anruf von einem Sender aus Berlin. Eine Redakteurin des SFB meldete sich: Ja, sie wolle unbedingt mein Hörspiel realisieren. Die Geschichte hätte ihr großes Vergnügen bereitet. Es war ein Hörspieltext für zwei Sprecher und die Handlung basierte auf einem fiktiven Zusammentreffen zweier recht unterschiedlicher Künstlerpersönlichkeiten: Salvador Dali und Samuel Beckett. Ich fiel damals aus allen Wolken und konnte mein Glück noch gar nicht richtig fassen. Kurz darauf fragte man mich auch noch, ob ich als Autor an bestimmte Schauspieler gedacht hätte, die Dali und Beckett ihre Stimmen leihen könnten.

„Mit Otto Sanders einzigartigen Stimme im Ohr, hatte ich mir die Figur Becketts akustisch vorgestellt.“

Ganz verwegen nannte ich nur einen Namen: Otto Sander. Mit seiner einzigartigen charismatischen Stimme im Ohr hatte ich mir schon während des Schreibprozesses die Figur Becketts akustisch vorgestellt. Daraufhin ging mein Wunsch auch noch in Erfüllung, Sander hatte mein Manuskript gelesen und er wollte die Rolle sprechen. Einige Wochen später durfte ich schließlich an einem Abend während der Wort-Aufnahmen im Hörspielstudio auf der Masurenallee mit dabei sein. Dort hörte ich meinen Dialog-Text zum allerersten Mal von zwei professionellen Schauspielern interpretiert.

„Dieses Erlebnis drang in meine Ohren und löste in mir ein ungeheuer starkes Glücksempfinden aus“

Neben Otto Sander sprach der aus Norddeutschland stammende Schauspieler Manfred Steffen die Rolle des Salvador Dali. Die Regie führte Hans Gerd Krogmann. Ich habe von den beiden Sprechern, aber auch von dem Regisseur, sehr viel für meine spätere Arbeit als Autor lernen können. Im Anschluss an die Postproduktion wurde ich erneut ins Studio zur „Hör-Premiere“ des fertig geschnittenen und abgemischten Hörspiels eingeladen. Nun waren auch die Musik, die Geräusche und akustischen Räume neben den Dialogen fein abgestimmt hörbar. Dieses Erlebnis drang in meine Ohren und löste in mir ein ungeheuer starkes Glücksempfinden aus. Es war genauso umgesetzt, wie ich es mir als Autor vorgestellt hatte. Mit genau diesem Hörspiel, „Barclay und Felipe“, eröffnete ich übrigens Jahre später meinen eigenen Hörbuchverlag und erzielte damit im Jahr 2008 immerhin eine Nominierung für den Deutschen Hörbuchpreis in der Kategorie „ Beste Fiktion“. Die Ursendung im Rundfunk blieb jedoch damals ohne große Resonanz.

Was bevorzugen Sie persönlich – Hörbücher oder „echte“ Bücher?

Lesen und Hören ist für mich eine sehr nah beieinander liegende Beschäftigung, denn ich bin davon überzeugt, dass gute literarische Texte Partituren gleichen, die durch ausgewählte Stimmen erst zu autarken Hörkunstwerken heranreifen. Die Wechselwirkungen zwischen dem gesprochenem Wort, Stimmen und Sprache, ähneln dem der Instrumente in einem Orchester. Worte und deren Bedeutung werden von mir als komplexes Erlebnis empfunden.

„Es gibt sogar Texte, die sich erst übers Zuhören vollends erschließen“

Hörbuch

Das gehörte Buch eröffnet bisweilen neue Ebenen der Interpretation!

Bei einer gelungenen Hörbuchproduktion entstehen immer bisher ungeahnte Zugänge zum Textverständnis und eröffnen im Zusammenspiel zwischen Inhalt und Form neue Möglichkeiten des eigenen Hörerlebens und Literaturverständnisses. Es gibt sogar Texte, die sich erst übers Zuhören vollends erschließen. Manchmal sind es nur wenige Sätze, die, besonders interpretiert, erst dem geschriebenen Text seine ursprüngliche Bedeutung verleihen. Es geht hierbei auch um den Subtext. Darin besteht, meiner Meinung nach, der eigentliche Mehrwert eines Hörbuches.

„Hörspiel ist wie Kino im Kopf“

Das Medium Hörbuch betrachte ich deshalb als eine eigenständige Kunstform. Die passenden Stimmen werden zu den jeweiligen Texten ausgewählt, nicht umgekehrt. Leider wird diesem wichtigen Kriterium oftmals zu wenig Beachtung geschenkt. Die Suche nach den richtigen Stimmen ist daher überaus wichtig. Denken wir mal darüber nach. Wie funktioniert das beim stillen Lesen eines Buches? Wahrscheinlich verleiht bereits jeder Leser, jede Leserin, bewusst oder unbewusst, den Romanfiguren während des Lesevorgangs in der Fantasie eine eigene Stimme. Wir kennen doch alle die Floskel: Hörspiel ist wie Kino im Kopf. Hätten wir als Leser nicht diese Fähigkeit, würden wir vermutlich kaum noch Bücher lesen. Wir würden jede Literatur als langweilig empfinden, da es den Figuren in einem Roman an markanten Charaktereigenschaften fehlte und wir ihre Handlungen nicht wirklich nachvollziehen könnten. Für mich sind daher gedruckte Bücher wie auch eBooks genauso wichtig wie Hörbücher.

Was erachten Sie als am schwierigsten, wenn Sie ein Buch vertonen (lassen)?

Es ist seltsam. Genau diese Frage wird mir immer wieder auch von einigen Teilnehmern meiner Hörbuchsprecher-Workshops gestellt. Etwa viermal im Jahr führe ich solche Workshops in einem Berliner Aufnahmestudio durch, da ich immer auch auf der Suche nach neuen Talenten und Stimmen bin. Sie treffen da mit Ihrer Frage vermutlich auf großes Interesse. – Aber jetzt zu den Schwierigkeiten. Ich bin da Gott sei Dank in einer privilegierten Situation, da ich sowohl als Autor wie auch als Hörbuchproduzent in Personalunion tätig sein darf. Ich kann also ein von mir geschriebenes Buch immer auch selbst vertonen, wenn ich es denn möchte. Das ist übrigens ein riesiger Vorteil, den ich sehr zu schätzen weiß, denn ich musste schon einmal miterleben, dass jemand einen Text von mir völlig missverstanden hatte. Die daraus entstandene Hörfassung wurde für mich zu einem akustischen, völlig sinnentstellten Fiasko.

„Die größte Schwierigkeit bei einer Hörbuchproduktion beginnt bereits bei der Sprecherauswahl“

Die Sprecherauswahl ist die erste und eine der größten Schwierigkeiten bei jeder Hörbuchproduktion

Die größte Schwierigkeit bei einer Hörbuchproduktion beginnt also bereits bei der Sprecherauswahl. Ich frage mich vor jeder Produktion: Welcher Sprecher passt überhaupt von seinem Image, seinem Ausdruck oder seinem Sprachklang her zu welchem Text? Ist die Interpretationskunst des Schauspielers oder der Sprecherin überhaupt geeignet, der Geschichte in einem Hörbuch die gewünschte Nuance zu verleihen, an die der Leser des Textes vielleicht nie gedacht hat, oder – im günstigsten Fall – die sich sogar mit seinen eigenen Empfindungen hundertprozentig deckt?

„Nimm dir Zeit bei der Suche nach einer geeigneten Stimme“

Eine erste Regel lautet: Nimm dir Zeit bei der Suche nach einer geeigneten Stimme. Es gibt so viele Möglichkeiten wie es Sprecher gibt, aber nicht jede Stimme passt zu jedem Text. Der Inhalt, die Form und die Aussage eines Textes enthalten fast immer wichtige Hinweise auf Besonderheiten, auf Charaktere, Alter, Stimmklang, Sprecharten, Intelligenz, auf Sprachduktus und Tempo, die allesamt eine Schauspielerin oder ein Sprecher bereits als eigenes Naturell mitbringen sollte und so ganz unverfälscht mit in die Geschichte einbringen kann. Wenn ich das Glück habe und eine solche kongeniale Verbindung zwischen Text und Stimme im Vorfeld erahne, bin ich meinem Ziel bereits einen großen Schritt näher gekommen.

„Es gibt auch Stimmen, an denen man sich irgendwann ‚überhören‘ kann“

Meine zweite Frage lautet dann oft: Sollte ich eine bekannte Stimme nehmen? Es gibt unter prominenten Schauspielern auch viele „Selbstdarsteller“, die kaum bereit sind, einer fiktiven Figur eine eigene unverwechselbare Charakteristik zu verleihen. Diese Schauspieler legen alle Textinterpretationen stets gleich an. Ihre Stimme, das eigene Instrument, auf dem sie eigentlich viele Noten spielen sollten, klingt bei allen ihren Hörbuchaufnahmen stets gleich, ganz egal, um welche Figur, um welchen Text auch immer es sich handelt. Wenn ich aber einen Text vertonen möchte, der sich kongenial mit der Stimme eines solchen Schauspielers deckt, wäre dies natürlich ein Idealfall. Ich muss dennoch vorsichtig sein, denn auf den anspruchsvollen Hörer macht solch eine Star-Besetzung mitunter keinen allzu großen Eindruck, da er vielleicht schon zahlreiche andere Audioproduktionen mit eben diesem „Alles-Sprecher“ kennt und inzwischen die Stimme des Prominenten sprichwörtlich nicht mehr hören mag. Mit anderen Worten: Es gibt auch Stimmen, an denen man sich irgendwann „überhören“ kann.

„Selbst versierte Mikrofonprofis benötigen eine professionelle Wortregie“

Toningenieur

Peter Reichel rät dringend davon ab, den Toningenieur auch noch als Regisseur einzusetzen!

Ein weitverbreiteter Irrtum ist übrigens auch die Annahme, ein Toningenieur oder Tonmeister könne doch gleich auch die Regiearbeit ausführen. Oder noch schlimmer, der Sprecher oder die Sprecherin führt diese Tätigkeit aus. Das funktioniert nur in ganz wenigen Ausnahmefällen, führt aber fast immer ins auditive Fiasko. Selbst versierte Mikrofonprofis benötigen und verlangen nach einer professionellen Wortregie. Diese kann ein Toningenieur während einer Aufnahme nicht wirklich leisten, da sich seine ganze Konzentration auf die Aufnahmequalität und alle technischen Parameter ausrichtet. Das gleiche gilt auch für die aktiven Sprecher. Sie hören sich selbst im Aufnahmestudio vor einem Mikro unter ganz anderen akustischen Bedingungen, als sie der Regisseur wahrnimmt, der ihre Stimmen durch die Lautsprecherboxen in der Aufnahmeregie hört und deshalb sofort eingreift, wenn kleine Aussprachefehler passieren, der Stimmklang, das Zeitmaß sich verändert oder es zu Abweichungen des gewünschten Sprachduktus kommt. Deshalb ist es dringend zu empfehlen, einen professionellen Regisseur für die Wortaufnahmen zu verpflichten, der nach Möglichkeit auch die anschließende Postproduktion (Schnitte, Blenden, Musik, Geräusche, etc.) zusammen mit dem Toningenieur durchführt. Sind diese beiden Hürden genommen, haben sie zwei der größten Schwierigkeiten bei der Hörspielproduktion bereits genommen.

Vielen Dank für dieses spannende und ausführliche Gespräch!

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Titelbild: © Peter Eckhart Reichel

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